Samstag, 11. August 2012

Istanbul – Zwischen den Welten



Mit einem Nachtbus der türkischen Busgesellschaft Metrolines brach ich von Varna nach Istanbul auf. Ich saß neben einer jungen Tartarin, die in Istanbul studierte, aber aus Bulgarien kam, und die mir noch sehr viel weiter helfen sollte. Der Bus war hypermodern, in jedem Sitz war ein kleiner Fernseher eingelassen, den man benutzen konnte, wenn man türkisch verstand. Es gab Wasser und Tee, allerdings wurde ich ziemlich schnell von der etwas giftigen Stewardess ignoriert, vielleicht, weil es sie nervte, dass ich weder bulgarisch noch türkisch verstand. Vielleicht, weil Touristen sie nervten. Ich schlief sehr wenig. In Bussen schlafe ich generell schlecht und dann kam ja auch noch mitten in der Nacht, ich denke so gegen zwei Uhr, kann mich aber nicht mehr recht erinnern, die Grenze. Das hieß: raus aus dem Bus, warten, Ewigkeiten an der Passkontrolle anstehen, wo es keine Toilette gab, wieder zum Bus, warten, Gepäck holen, warten, mit dem Gepäck durch den Zoll, warten, rein in den Bus. Die Grenzkontrolle war relativ schnell erledigt – Stempel in den Pass und fertig. Die Zollkontrolle war aufwändiger. Wie am Flughafen gab es ein kleines Gepäckband und so ein Gerät, wo das Gepäck durchleuchtet wird. Ich legte auf das Band – einen riesigen Trekkingrucksack, eine grüne Tasche, die mein Handgepäck war, einen Schlafsack. Heraus kamen der rote Trekkingrucksack und die grüne Tasche. Ich wartete. Zwei Personen gingen vorbei, nahmen ihr Gepäck auf, aber der Schlafsack blieb verschollen. Ich war müde, ich war genervt, ich dachte darüber nach, den verdammten Schlafsack zurück zu lassen. Aber ich wollte ja noch weiter couchsurfen und ich dachte doch, dass ich ihn vielleicht noch brauchen würde und so ging ich zur Stewardess. Eine schlechte Idee. Mit Handbewegungen bedeutete sie mir, endlich einzusteigen und schimpfte ein bisschen auf mich ein, in einer Sprache, die ich nicht verstand. Ich gab nicht auf. Ging zum Bus, zu meiner süßen Sitznachbarin, die sehr gut Englisch konnte und erklärte ihr mein Problem. Wir gingen zurück zum Zoll und erklärten es dem Zollbeamten. Der guckte auf seinen Bildschirm – nichts zu sehen. Die Stewardess hatte einen triumphierenden Blick und wollte bereits wieder mit herumscheuchen anfangen, da kletterte der Zollbeamte aufs Gepäckband und schaute in die Maschine. Als er diese schwarzen Plastikvorhänge hob, sah ich meinen Schlafsack schon, die ungeduldig werdende Stewardess aber nicht. Ich war froh, dass ich selber noch Wasser dabei hatte, von ihr würde ich wohl auf der restlichen Fahrt nichts mehr bekommen. Nach einer Weile und einigen Herumzerren, denn der Schlafsack hatte sich wohl im Inneren des Gepäckröntgengeräts verfangen, kam der Zollbeamte mit meinem Schlafsack. Nun aber husch in den Bus. Sonst würde die Stewardess dem Busfahrer anweisen, uns am Fahrbahnrand auszusetzen.



Der Rest der Reise war ruhig, wenn ich auch nicht mehr wirklich schlief. Als die ersten Vorstädte von Istanbul auftauchten war ich wach und neugierig. Wieder in dieser Riesenstadt zu sein, die so fern von allem liegt, was man sich vorstellen kann. Ich war bereits zwei Mal da und wieder würde es ein vollkommen anderes Erlebnis sein. Das Istanbul zwar mein eigentliches Ziel der Reise, der Grund meines Wegs entlang der Schwarzmeerküste und meines Rückwegs über Belgrad war, aber dennoch eben nur ein Zwischenziel zwischen Varna und Belgrad, passte dazu ganz gut. Istanbul liegt dazwischen, zwischen den Welten, wenn mir die Benutzung dieses Klischees erlaubt sein möge. Natürlich, die alte Geschichte – der Balkan, wo Orient und Okzident aufeinanderprallen und gewissermaßen Istanbul als Hauptstadt des Balkans. Ehemaliges Zentrum der Orthodoxie, heute muslimisch, aber auch säkular. Eine europäische moderne Gesellschaft, Säkularität und Konsum treffen auf eine traditionelle islamische Gesellschaft mit traditionellen Werten, Gelassenheit und Gastfreundschaft. Der Bospurus ist keine Trennlinie, sondern ein Übergang und mit seinem Wasser schwappt ein Hauch Ost nach West und umgekehrt. Die Stadt ist riesig, die Stadtteile an sich schon so groß wie einzelne Städte, so verschieden wie einzelne Städte, so bunt wie die Welt. Natürlich, die Mengen an Touristen die durch die Straßen fluten, aber dann läuft man wieder durch das Wohnviertel in Besiktas oder sitzt im Frühstückscafé und sieht keine Backpacker, keine Kulturtouristen und niemanden auf Cityhopping oder Shoppingtrip. Man kan verloren gehen in dem Straßengewirr, man kann verloren gehen, in den Gassen um den großen Basar, man kann verloren gehen, beim Herumlaufen auf der asiatischen Seite, man kann sich vergessen, beim Blick auf das Wasser. Und man kann sich finden. Kann sich sicher sein, dass man da ist, wo man hin wollte. Das alles gerade richtig ist. Das Istanbul der Ort ist, der gerade das Lebensgefühl am Besten ausdrückt. Diese Stadt, die das rosarot-romantische Ziel aller hippiesken Hitchhiker ist, aller lässiger, verträumter Rucksacktouristen verspricht viel und hält das meiste. Ich bin immer wieder fasziniert, wenn ich hinkomme. Auch ich hatte eine Istanbulidee im Kopf und ja – sie wurde hundertprozentig erfüllt.



Meine Sitznachbarin hatte mich noch auf ihrer Fahrkarte ein paar Stationen ins Stadtzentrum mitgenommen und dann fuhr ich noch einmal ein paar Stationen mit einem anderen wunderbaren Istanbuler mit. Ich bin immer wieder fasziniert, wenn ich vollkommen uneigennützig Hilfe von wildfremden Menschen erhalte. Und dann klingelte mein Telefon. Das Fräulein rief an. Sie wollte sich in einer Stunde in Taksim mit mir treffen. Ich wusste ungefähr, wo ich hin musste. Gerade war ich in der Nähe vom Bahnhof, und ganz da in der Nähe war eine Fährstation. Ich musste nur einen Ort finden, um Geld zu tauschen und mir eine Fahrkarte zu kaufen und ich wäre schwuppdiwupp in Taksim. Doch im Bahnhof gab es kein Tauschbüro. Weit und breit war keines zu sehen. Ich setzte mich kurz, blickte aufs Wasser und überlegte. Vielleicht war es das morgendliche Glitzern des Bosporuswassers, vielleicht war es der Übermut, am Ziel der Träume zu sein, ich beschloss jedenfalls, zu laufen. Ich hatte keine Karte und so lief ich vermutlich einen riesigen Umweg, aber irgendwann war ich in Taksim und irgendwann fragte ich dann auch noch jemanden, wo der Burger King war, wo ich mich mit dem Fräulein treffen wollte. Ich war etwa eine Stunde gelaufen. Ich war tatsächlich schweißgebadet, nicht nur metaphorisch. Ich war erschöpft und doch immer noch glücklich, und da, da stand sie. Jetzt war ich überglücklich. Dass das geklappt hatte, dass sie tatsächlich vor mir stand, dass wir uns in Cluj getrennt und in Istanbul wiedergefunden hatten, wobei für mich an einem Punkt in Varna die Reise fast vorbei gewesen war, all das grenzte an ein Wunder.

Wir beschlossen, erst einmal einen Tee zu trinken. Einen türkischen. In irgendeinem Straßencafé, ganz egal. Hauptsache kurz sitzen. Als uns dann noch die Männer vom Nebentisch einen halben Simit rüberreichten, war alles perfekt. Genau das hatte ich mir für meinen ersten Morgen in Istanbul gewünscht – einen türkischen Tee und einen Simit. Ich konnte mein Glück kaum fassen.
Mein Geldproblem war damit auch gelöst und ich war gespannt auf alles, was da kommen mochte.

Die Tage in Istanbul waren traumhaft. Wir latschten ganz oft durch die Gegend, um die Stadtteile zu erkunden und entdeckten niedliche Straßen, wo wir am liebsten wohnen wollten, kleine Parks und kleine Cafés, Streetart und Berlinflair, was vor allem dem Fräulein, die ja eigentlich ein echt Berliner Frollein ist, gefiel. Wir fuhren Fähre und ich liebte es – Wind, Wasser, eine Stadt an beiden Ufern, Spannung und Aufregendes wohin das Auge blickt. Wir gingen in den Topkapi-Palast, waren aber schnell genervt von der Hitze und den Unmengen an Touristen, waren nicht aufnahmefähig genug, verharrten dafür aber ewig auf den diversen Terrassen um Bilder mit Bosporuspanorama im Hintergrund zu machen. [Verzeihung, dass ich hier keine einstelle, ihr wisst schon, ich mag hier alles hübsch anonym gestalten.]

Wir gingen auf den großen Basar, ich jagte vergebens nach den Flatterhosen, die ich das letzte Mal in Istanbul erstanden hatte, jetzt waren eben „Haremshosen“ in. Dafür fand ich die feinen gehämmerten Messingohrhänger wieder und kaufte für meine Freundinnen gleich ein halbes Dutzend. Wir kauften noch kleine Keramikschälchen, das war es dann aber auch. Ich machte am letzten Tag vor meiner Abreise noch ein paar Einkäufe, zum Beispiel diese winzigen Täschchen im Teppichlook, die gut für Kleingeld und Perso beim Tanzengehen sind, und ein paar billige Turnschuhe, die vermutlich kein Original der Marke sind, die drauf steht.



Ein Highlight des Aufenthalts war ein Konzert der Takatuka-Band, die mich via Couchsurfing zu ihrem Konzert eingeladen hatte. Keine schlechte Masche, eine Menge der Anwesenden beim Konzert schienen Couchsurfer zu sein, aber es lohnte sich dennoch sehr. Die Location war ein Club in der obersten Etage eines Hauses in Taksim, mit Blick über Istanbul. Die Band bestand aus mehreren Leuten, heraus stach aber der unheimlich attraktive Sänger, der auf der Bühne unentwegt lächelte. So ein schöner Mann, so ein unglaublich schöner Mann. Wir tanzten sehr viel und tranken Bier, auch wenn das unglaublich teuer war. Ein paar Wochen später in Bukarest erfuhr ich von einem in Istanbul lebenden Spanier den Grund: In der Türkei versuchten konservativ-muslimische Kräfte gerade, islamische Grundsätze wieder stärker durchzusetzen und wollten dementsprechend Alkohol am Liebsten verbieten, wie in anderen islamischen Ländern, wenn dies nicht ging, dann aber wenigstens sehr teuer machen. Der Abend war großartig, auch der DJ, der auflegte, als die Band eine Pause machte, hatte eine klasse Playlist, die er aber auf Anfrage nicht mitteilen wollte.




Das größte Event in Istanbul war aber wohl der Geburtstag des Fräuleins. Meine Reise nach Istanbul war auch damit begründet, dass wir diesen zusammen feiern wollten, in Istanbul. Wir waren von einer Freundin des Fräuleins zu einem Couchsurfer umgezogen und warteten an dem Abend darauf, dass irgendwann in der Nacht des Fräuleins Mitbewohnerin aus Berlin eintreffen würde. Das Fräulein hatte sich ein wenig zur Ruhe gelegt, ich zog mit dem Gastgeber los und kaufte Kuchen und Kerzen, um ihr eine Geburtstagsüberraschung zu bereiten. Und so wurde das Fräulein dann mit Eistorte geweckt, die wir daraufhin in Ermangelung eines Eisfaches verspeisen mussten. Die Mitbewohnerin kam auch noch an in dieser Nacht und so lagen wir schließlich zu dritt in der Wohnküche unseres Gastgebers und pennten ein wenig – am nächsten Tag wollten wir zur Prinzeninsel aufbrechen. 
Die Prinzeninsel für die Berliner Prinzessinnen, die Geburtstagsprinzessin und die Prinzesinnnenmitbewohner- und -besucherin. Außerdem noch mit am Start, die Prinzessinnenfreundin, bei der wir die ersten Nächte geschlafen hatten. Perfekt. Die Insel war ein Blütenmeer. Wir versuchten vergeblich, ein Kloster zu finden, das war dann aber auch nicht schlimm, denn so saßen wir einfach irgendwo unter Kiefern und schlürften Tee. Wir hatten an der Straße Obst gekauft und verdrückten dieses. Wir redeten, über Emanzipation, Diskurse und diskursgeschädigte Personen – für mich war es der vielleicht intellektuell ansprechendste Punkt der Reise. Ok, ok, die Gespräche mit meinem Varnaer Host gingen zum Teil auch über meinen Tellerrand heraus und auch mein Belgrader Host gibt mir durchaus immer Denkanstöße gibt, wenn ich bei ihm bin, aber dennoch, fand ich das Gespräch sehr anregend.
Wir wollten abends zum Geburtstag feiern dann noch mal zur Takatukaband und es war eine ziemliche Enttäuschung. Die Musik war gut, die Stimmung war nicht vorhanden, die Anwesenden waren ein paar vereinzelte Couchsurfer und die Party ging ein Stockwerk tiefer im Erasmus-Club. Dahin gingen wir dann auch nach ein paar Liedern, als alle, besonders unser Gastgeber und sein Mitbewohner drohten einzuschlafen. Wir tanzten zu den besten Erasmus-Hits aller Zeiten (also der gleichen Musik, die auf Erasmus-Feten in Cluj, Madrid, Stockholm oder Krakau auch laufen würde) und es war wohl schon spät, als wir nach Hause gingen.

An meinem letzten Istanbultag frühstückten wir dann nachmittags um zwei in einem Terrassencafé im vierten Stock. Ich blickte auf die Aya Sofya, die Berlinerinnen auf die Blaue Moschee und so war jeder hochzufrieden. Zudem gab es ein sehr gutes Frühstück incl. kostenlosem Tee zu einem annehmbaren Preis. Das Fräulein und ihr Besuch brachen zur Blauen Moschee auf, ein Traum, den sie für diese Reise gemeinsam hatten, ich schlug mich noch einmal zum Basar durch, um letzte Einkäufe zu erledigen und ein letztes Mal in dem Gewirr der Gassen verloren zu gehen. Wir trafen uns wieder, holten meine Sachen und ich stieg in den Bus Richtung Sofia. Die Reise nach Belgrad war nicht so einfach und geradlinig, wie es mir bahn.de anzeigte, aber das ist schon wieder die nächste Geschichte.

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