Für einen, der von hier ist.
Rumänien, Südosteuropa, der Balkan –
meine zweite Heimat und Sehnsuchtsregion. Gerade in schwierigen
Situationen denke ich immer wieder, dass ich verrückt sein muss,
mich für ein Leben hier zu entscheiden. Aber dann kommt wieder ein
Moment, in dem ich merke, dass ich einfach hierher gehöre. In einer
Zugfahrt durchs rumänische Hinterland beispielsweise befinde ich
mich durch die Mischung aus aufkommender Nostalgie, vielleicht auch
Ostalgie, und einer gehörigen Portion romantischer Verklärung im
Land meiner Wunschträume.
Ich habe den Zug knapp erwischt. Natürlich gibt es nirgends an den Bahnsteigen Tafeln, die anzeigen, auf welchem Bahnsteig man sich befindet oder gar welcher Zug als nächstes abfährt. Die omnipräsenten Bahnbeamten können auch meist nicht weiterhelfen, erst recht nicht, wenn man einen Zug der privaten Bahngesellschaft nehmen muss. Aber immerhin weiß ich jetzt, dass der Zusatz „R“ hinter der Gleisangabe bedeutet, dass der Zug von dem Teil des Bahnhofs abfährt, wo die Züge Richtung Reschitza fahren und sogar, wo diese Gleise sich befinden. Auch dort natürlich keine Nummerierung der Gleise, aber die vor dem Zug stehenden Kontrolleure meinten, ich sei richtig. Zwei, drei Minuten vor Zugabfahrt also in den Zug gehüpft, oder besser, mich an den steilen Stufen mithilfe des Haltegriffes einen Meter hoch gewuchtet. Im Zug ist es relativ voll, der Gang ist eng. Die Sitze aus braunem Kunstleder sehen dennoch gemütlich aus. In der letzten Reihe lasse ich mich neben zwei Herren nieder. Sie sitzen auf gegenüberliegenden Bänken am Fenster, ich fast in der Mitte. Kein Körperkontakt notwendig, der Sitz ist breit genug für drei oder vier Personen. Das ist gut. Ich fühle mich wohl neben den beiden, sie sind zurückhaltend. Nach ihren Gesichtern zu urteilen könnten sie Vater und Sohn sein, die Haares des Alten schon fast komplett weiß, der Jüngere nur angegraut. Ein markantes Gesicht hat er, der Alte. Früher, so sagt er, war er überall in Rumänien mit dem Lastwagen, aber früher war es ja auch anders. Als er die Kontrolleurin fragt, ob sie umsteigen müssen, ist das seinem Sohn irgendwie peinlich. Der Alte findet nichts dabei. „Mädchen, fährst du auch nach Reschitza?“ Ich bejahe. Viel reden wir nicht, ich bin in mein Buch und die Landschaft vertieft, die zwei mit sich beschäftigt. Auf spätere Fragen, wo wir seien, kann ich auch nur mit einem „Weiß nicht.“, antworten.
Ab und zu trifft sich mein Blick mit
dem des dicken Mannes gegenüber. Er ließt „General Apostolescu in
'Die Spione' “. Das Buch ist so zerfleddert, dass ich den Titel nur
erkennen kann, wenn er es gut festhält, sonst klappt das Titelblatt
herunter. Irgendwann schlüpft der Leser in die knallrote Jacke eines
Sicherheitsdienstes und steigt aus. Vermutlich um Spione, Bösewichte
und Ladendiebe zu fassen.
Ich hüpfe noch eine Weile auf meinem
gut gefedertem Sitz auf und ab und versuche mir, trotz der
vorbeiziehenden spätherbstlichen Landschaft den Sommer vorzustellen.
Die Tristesse von Dorfsportplätzen, auf denen am Wochenende wohl die
Nachbardörfer gegeneinander zum Fußball antreten, erscheint hinter
verdreckten Fenstern. Sie sehen verwaist aus in der kalten
Jahreszeit. Ab und zu ein Bahnhof, das heißt, ein dreckiges Häuschen
mit einem einzelnen Bahnvorsteher und einigen Streunerhunden,
manchmal steigt sogar jemand aus oder ein. Große Ställe, vormals
wohl landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften stehen zum Teil
leer. Immer wieder Häuser, die unfertig oder schon wieder verfallen
sind. Menschen auf Fahrrädern. Einzelne Kuhhirten.
Aber wenn ich mich ein wenig anstrenge,
weiß ich dennoch, wie es ist im Sommer. Wie die nackte Haut
unangenehm am Kunstleder klebt, wie es nicht dunstig nach klammen
Klamotten und schwitzigen Wollpullovern in überheizten Zugabteilen
riecht, sondern nach Schweiß der Feldarbeit und salziger Haut der
Backpacker. Der Zug bedeutet für mich Zuhause, im Sommer wie im
Winter. Er repräsentiert das, was ich in meiner Wahlheimat suche –
die klapprigen Sitze, die offenen Türen, die einfachen Leute. Ich
bin immer enttäuscht, wenn ich in einem modernen Zug lande, wie er
auch in Deutschland als Regionalbahn fahren könnte. Ich stemme mich
regelrecht gegen jede Modernisierung, will mir mein Rumänien so
bewahren, wie es war, als ich es das erste Mal bereiste. Ich fluche
vor mich hin, wenn ich keine Ahnung habe, wo und wann mein Zug
abfährt und wenn mein Sitznachbar so sehr stinkt, dass mir davon
schlecht wird. Aber genau danach dürste ich auch.
Vielleicht hat es etwas mit Balkanisierung zu tun. Mit dem Konstrukt in unserem Kopf. Vielleicht bin ich vielmehr verliebt in eine Idee von Rumänien oder von Südosteuropa. Doch nun stelle ich mich der Herausforderung, hier zu leben. Rumänien ganz zu erfahren. Wenn die rosarot gemalten Visionen in meinem Kopf immer krasser mit den scharf ausgeleuchteten Abbildungen der Realität kollidieren, muss ich irgendwann einsehen, dass ich nicht im Traumland lebe. Ich werde mich der Wirklichkeit stellen, werde mich ihr stellen müssen. Werde schauen müssen, ob dass, was tatsächlich passiert, immer noch traumhaft ist oder ob die gehörige Portion Orientalismus in meinem Denken für eine totale Verzerrung gesorgt hat. Am Ende steht vermutlich folgende Erkenntnis: Es ist trotzdem schön. Wenn ich durch die harten Monate der Erkenntnis durch bin, werde ich vermutlich immer noch bleiben wollen. Denn obwohl der Kapitalismus hemmungsloser und der Konsumwahn uneingeschränkter ist, ist dennoch die Offenheit der Menschen, die Gastfreundschaft und die Überbleibsel des einstmals alltäglichen und natürlichen Multikulturalismus etwas, wofür es sich zu bleiben lohnt. Rumänien ist immer noch im Umbruch, anders als Ostdeutschland, wo die Wende in ein paar Jahren theoretisch vollzogen war (auch wenn heute praktisch dennoch an einigen Stellen scheinbar unüberwindbare Schluchten klaffen). In Rumänien ist noch hier und da das fruchtbare geistige Klima des Umbruchs zu spüren. Ich kann es verstehen, dass es Leute auf der Suche nach Abenteuern nach Rumänien zieht. Ich bin im Endeffekt eine davon. Aber wenn ich in dem Land bleiben möchte, wenn ich hier leben möchte, dann ist es zwangsläufig in nicht allzu ferner Zukunft Zeit für Realismus.
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